Ergebnisse des Praxisaustausches der Regionalveranstaltungen 2022/2023 im Rahmen des Projektes „pro:dis. Qualifizierung und Distanzierungsberatung in Jugendarbeit und angrenzenden Arbeitsfeldern“
Die Koordinierungs- und Beratungsstelle pro:dis hat zu insgesamt vier Regionalveranstaltungen in Aue, Freiberg, Hoyerswerda und Wurzen von November 2022 bis Januar 2023 eingeladen. Neben einem Monitoring-Bericht zu regionalen Dynamiken und Strategien von völkisch-nationalistischen, neonazistischen und autoritären Akteuren zur Ansprache von jungen Menschen in der jeweiligen Region, erfolgte mit den insgesamt 50 Fachkräften der Jugendarbeit und angrenzender Arbeitsfelder ein reflexiver, thematischer Austausch. Im Rahmen des Praxisaustauschs wurden die nachstehenden Fragestellungen zu fünf Themenkomplexen diskutiert.
Im Folgenden werden zusammenfassend die Ergebnisse des Austausches dargestellt, die die Aussagen von den teilnehmenden Fachkräften widerspiegeln.
1. Welche Erfahrungen haben Sie mit rechtsinvolvierten jungen Menschen gemacht?
Die Fachkräfte benannten hier, dass „rechte“ Aussagen oder Einstellungen nicht ein Randphänomen bei jungen Menschen darstellen, sondern in der breiten Gesellschaft zu finden sind. Menschen- oder demokratiefeindliche Aussagen und Einstellungen sind damit in Teilen der Gesellschaft normalisiert. Gesellschaftspolitische Wegmarken, wie u.a. die Fluchtbewegungen 2015 und die folgenden Proteste gegen Geflüchtete, beeinflussen auch junge Menschen sehr. Darüber hinaus kommt es auf das soziale und familiäre Umfeld an, welche Einstellungen und Werte weitergegeben werden. Das hat Auswirkungen auf die jugendlichen Lebenswelten. Gleichzeitig wird die Aussage von einer Fachkraft getroffen, dass junge Menschen politisch desinteressiert wären.
In Bezug auf Strategien zur Jugendansprache von völkisch-nationalistischen und autoritären Akteuren wird benannt, dass junge Menschen in ihren pauschalisierenden Ablehnungshaltungen von diesen „akzeptiert“ werden. Im Gegensatz zu staatlichen Jugendeinrichtungen, wo junge Menschen auf menschenrechtsbasierte und demokratische Jugendarbeit treffen. Auch über polarisierende Gesellschaftsdebatten, wie Migration oder Feminismus, wird versucht, junge Menschen für neonazistisch-völkische Ideologien zu gewinnen. Es werden auch verschiedene jugendkulturelle Zugänge genutzt, wie u.a. Musik, Kleidung oder auch neonazistische Gratis-Sticker. Zudem wird benannt, dass Fußball ein Einstieg in die neonazistische Szene sein kann, da es einzelne neonazistische Gruppierungen bei Fußballspielen und -teams geben würde.
Die Fachkräfte beschreiben rechtsinvolvierte junge Menschen damit, dass sie im ersten Eindruck ein „gutes Verhalten und Ausdruck“ hätten. Sie stellen auch fest, dass diese häufig einen starken Anführer bzw. Bezugsperson suchten. Zudem haben gesellschaftliche Veränderungen Einfluss auf die Lebenswelt der jungen Menschen und ihre konkreten, alltäglichen Erfahrungen, was zu Schuldzuweisungen führen kann („die Ausländer nehmen uns den Sportplatz weg“). Die Fachkräfte berichteten ebenso von Provokationen, um u.a. Fachkräfte zu verunsichern. Darüber hinaus wurde von Übergriffen auf Minderheiten berichtet. Auch wird davon berichtet, dass es nur einzelne neonazistisch orientierte junge Menschen zur Beeinflussung von einer ganzen Einrichtung oder Dorf/Stadtteil benötige. Diese würden durch u.a. körperliche Präsenz und Äußerung von neonazistischen, menschenfeindlichen Aussagen Räume einnehmen.
2. Welche Erfahrungen machen Sie als Fachkraft in Bezug auf Umgang mit rechtsinvolvierten jungen Menschen?
Hier wurde u.a. benannt, dass einerseits eine Unsicherheit bzgl. des Umgangs mit rechtsinvolvierten jungen Personen besteht, aber auch verschiedene Handlungspraxen entwickelt worden sind. Durch die Fachkräfte wurden Wissenslücken zu neonazistischen Erscheinungs- und Erkennungsmerkmalen benannt, da diese sich stetig ändern, sodass eine weitere Sensibilisierung und Weiterbildung zum Thema erfordert wird. Darüber hinaus fällt es in der sozialpädagogischen Praxis schwer, eine konkrete Analyse von politischen Haltungen und ideologischen Weltbildern durchzuführen. Daher brauche es hier vermehrt Qualifizierungsangebote zu sozialpädagogischen Umgangsformen, rechtlichen Aspekten in Bezug auf Umgang mit neonazistisch involvierten Adressat*innen sowie die Reflexion eigener pauschalisierender Ablehnungshaltungen und professionelle Haltung. Zudem wurde der regelmäßige Austausch vor Ort als gewinnbringend eingeordnet, obwohl bestehende Austausch- und Qualifizierungsangebote aufgrund knapper Ressourcen von den Fachkräften nicht immer genutzt werden können. Eine besondere Relevanz wurde in der eigenen politischen Haltung der Fachkräfte im Umgang mit rechtsinvolvierten jungen Menschen und damit eine Reflexion dessen identifiziert. Wobei hier die Forderung von konservativen Akteuren nach einer vermeintlichen „Neutralität“ als sehr herausfordernd und verunsichernd beschrieben wurde.
3. Welcher Umgang hat sich bisher als hilfreich erwiesen?
Der Umgang der Fachkräfte ist sehr unterschiedlich und abhängig von den lokalen Rahmenbedingungen. Die Fachkräfte haben hier beschrieben, dass es bei alsProvokationen wahrgenommenen und gleichzeitig strafbaren Handlungen, wie u.a. beim Hitlergruß, wichtig sei, dass Grenzen gesetzt werden. Hier ist es insbesondere sinnvoll, dass externe Beratung hinzugeholt werde. Zudem ist es wichtig, junge Menschen mit Argumenten zu konfrontieren und genannte Argumente hinterfragen zu können. Ein hilfreiches Instrument ist der Hinweis auf rechtliche Rahmenbedingungen, wie u.a. auf Art. 3 GG oder das Schulgesetz. Das Hinzuziehen von der Polizei, welches als weitere Möglichkeit benannt wurde, ist im Einzelfall genau zu prüfen. Als Umgang wurde wirkungsvoll benannt, dass positive, demokratische Gegenerfahrungen und Gemeinschaftserlebnisse ermöglicht werden sollten. Zudem wurde erwähnt, dass es an manchen Orten ein niedrigschwelliges Gegenangebot zu evtl. neonazistischen Angeboten vor Ort braucht, wie u.a. die Zusammenarbeit mit anderen Sportvereinen. Darüber hinaus ist es hilfreich, wenn rechtsinvolvierte junge Menschen direkt von den Fachkräften angesprochen werden, um herauszufinden, wie ihr Alltag und die Lebenswelt gestaltet ist. Dabei ist es wichtig darauf zu achten, dass nicht bereits im Vorfeld geurteilt wird. Sondern es sollte vielmehr das Gespräch gesucht werden, ob einzeln oder in der Gruppe. Dafür kann es hilfreich sein, die lebensweltlichen Bezüge der jungen Person ernst zu nehmen und Gründe für Handlungsweisen zu erforschen. Dafür ist es wichtig, dass Fachkräfte den jungen Menschen zuhören und im Gespräch auf der Sachebene bleiben. Gerade in freiwilligen Kontexten, wie der Jugendarbeit, können so belastbare Beziehungen entstehen bzw. stabilisiert werden.
Im Umgang mit menschenrechtsorientierten jungen Menschen wurde betont, dass diese aktiv unterstützt werden müssen. Aktionen wie gemeinsames rechte Sticker-abkratzen oder die Schaffung von safer spaces in den Jugendeinrichtungen bieten sich hier an. Dafür ist es auch wichtig, dass auch in diesen Gruppen jugendlicher Adressat*innen zu aktuellen Themen und Debatten aufgeklärt und sensibilisiert wird.
4. Wo sieht es im Alltag auch anders aus, inwiefern sind Herausforderungen ggf. anders gelagert?
Hinsichtlich weiterer Herausforderungen für Adressat*innen haben die Fachkräfte verschiedenes benannt. Unter anderen wurden die äußeren Bedingungen sowie die aktuellen Krisen, wie u.a. Krieg oder die Pandemie, und die damit einhergehende gesellschaftliche Polarisierung benannt. Diese prägen die Lebenswelt und alltägliche Erfahrungen der jungen Menschen immens. Dies kann zu Angst und erhöhten Sicherheitsbedürfnissen führen. Zudem hat die Pandemie dazu geführt, dass teilweise die Jugendarbeitsangebote nicht mehr passend sind. Einen weiteren großen Unterschied stellt für die jungen Menschen dar, ob sie im städtischen oder ländlichen Raum aufwachsen. Dazu kommen wichtige Faktoren, wie social media, Sexualität und Geschlecht(errollen), Adoleszenz und die Suche nach Identität und Zugehörigkeit im Leben der Adressat*innen, die deren Alltag und Lebenswelt beeinflussen. Auch wurde benannt, dass die sozio-ökonomische Benachteiligung, der gesellschaftliche Leistungsdruck, Rauschmittelkonsum oder auch Familienprobleme weitere Probleme und alltäglich erfahrende Herausforderungen für junge Menschen sind. Diese äußeren Faktoren können damit zu einer Unzufriedenheit der jungen Menschen führen, welche ihre sozialen und politischen Haltungen beeinflussen können.
5. Was brauchen Sie von einer Distanzierungsberatung wie pro:dis oder auch von der AGJF Sachsen e.V.?
Hinsichtlich der Weiterentwicklung der Beratungsstelle pro:dis sowie an den Dachverband AGJF Sachsen e.V. wurden verschiedene Wünsche benannt:
- Weiterbildung und Sensibilisierung der Fachkräfte (u.a. Unterstützung von Kindern/jungen Menschen aus völkisch-nationalistischen und neonazistischen Elternhäusern),
- Zusammenarbeit mit Jugendarbeitsstrukturen auf verschiedenen Ebenen (wie u.a. beim pro:dis-Portal),
- solidarisches Miteinander unter Projekten durch Unterstützung der Jugendarbeitsstrukturen,
- Bereitstellung von Handreichungen (wie bspw. eine Broschüre zu völkisch-nationalistischen und neonazistischen Symbolen und Erscheinungsformen)
Es wurde in dem Zuge ebenso die Fragen danach gestellt, wie Zugänge zu jungen Menschen geschaffen und wie ein Monitoring hinsichtlich Entwicklungen zu völkisch-nationalistischen und neonazistischen Involvierungsdynamiken von jungen Menschen bereitgestellt werden können.
kritischen Nachfragen. Wir nehmen diese für die Weiterentwicklung von Bildungsangeboten von pro:dis sowie der AGJF Sachsen e.V. und für die Erstellung von Arbeitsmaterial mit. Die Ergebnisse werden wir darüber hinaus in entsprechenden Gremien, wie unserem Projektbeirat, unseren Verbundtreffen und dem Berater*innennetzwerk bearbeiten.
„wenn wir es nicht machen, dann machen es andere“
Aussage von einer Fachkraft bei einer Regionalveranstaltung